Ein Glücksfund

Zeugnis für Johann Friedrich Latour, NLA OS Erw 23 D 23 Nr. 9 (Foto: Rose Scholl)

Als Johann Friedrich Latour 1726, vor knapp 300 Jahren, seine Lehre bei Schneidermeister Rudolf Broelmann abschloss, erhielt er das schmuckvolle Zeugnis (Abb.). Daß keinmand an ihme etwas zu tadeln gefunden, wurde ihm durch die Unterschriften des Vorstehers Lübert Jürgen Sander und des Gildemeisters Claus Dierkes vom Schneideramts zu Bramsche bestätigt, ebenso wie sein handwerkliches Können und seine eheliche Abstammung.

Latours Zeugnis gehört zu 57 Schriftstücken aus der Zeit ab 1615, die nach der Auflösung des Schneideramtes rund 150 Jahre lang pfleglich bei den Nachfahren des letzten Innungsmeisters Hermann Rudolph August Hackmann (1823–1886) in Bramsche verwahrt wurden. Im vergangenen Jahr übergab die Familie sie dem Tuchmacher Museum Bramsche zunächst zur Ansicht. Wir ordneten und inventarisierten den Bestand, sahen aber zugleich, dass unser Haus den Unterlagen nicht so gerecht werden kann wie ein öffentliches Archiv: Ein Archiv muss laut gesetzlichem Auftrag dafür sorgen, dass Archivgut „zu wissenschaftlichen Zwecken oder sonst berechtigtem Interesse“ von jedermann im Rahmen seiner Vorschriften genutzt werden kann; es also öffentlich zugänglich machen. Wir stimmten uns mit Hackmanns Nachfahren ab und gaben den fertig bearbeiteten Bestand als Schenkung an die Abteilung Osnabrück des Niedersächsischen Landesarchivs weiter. Dort gesellt sich die Überlieferung des Schneideramts Bramsche (Signatur NLA OS Erw D 23) nun zur Überlieferung der Tuchmacherinnung Bramsche (Signatur NLA OS Dep 95) und kann über das Archivinformationssystem arcinsys.niedersachsen.de bequem im Internet recherchiert und im Lesesaal vor Ort im Original eingesehen werden.

 

Das Kramer- und Schneideramt: Bramsches zweitälteste zunftmäßige Vereinigung

In der Zeit von 1585 bis 1779 entstanden in Bramsche fünf zunftmäßige Vereinigungen. Ihre hoheitlich privilegierten Statuten (Amtsordnungen) regelten unter anderem die Aufnahme in die Institution, die Lehr- und Wanderjahre, die Qualität ihrer Produkte, die innere Organisation und die soziale Absicherung. Die Grenzen des Kirchspiels Bramsche galten als Bannmeile, in der die Mitglieder vor auswärtiger Konkurrenz geschützt waren.

Die Tuchmacher waren 1585 die ersten, die Kramer (Händler) und Schneider waren 1615 die zweiten in der Reihe, die mit Amtsrechten ausgestattet worden waren. Es folgten das Bäckeramt (1617), das Schuhmacheramt (1664) sowie das Tischler-, Weißgerber- und Hutmacheramt (1779).

Der Archivbestand „Schneideramt Bramsche“ deckt die gesamte Zeitspanne seines Bestehens ab – von der Erteilung des Privilegs im Jahr 1615 bis zur Auflösung der Schneidergilde um etwa 1870. Neben Dokumenten wie Protokollen, die die inneren Angelegenheiten des Amtes widerspiegeln, sind Schriftwechsel mit Behörden und Rechtsbeiständen, Bescheinigungen wie Zeugnisse und Nachweise ehelicher Herkunft sowie Rechnungsangelegenheiten vorhanden. Die Korrespondenz mit Schneiderämtern bzw.-gilden anderer Orte lässt Einblicke in aktuelle Themen – wie Lehr-, Gesellen- und Wanderjahre, Bönhaserei/Pfuscherei, Zulassungsvoraussetzungen und -kosten der Amtsmitgliedschaft, Umgang mit Schneiderinnen – und die Art der Wissensvermittlung zu.

 

Status und handwerklicher Stolz im 18. Jahrhundert

Obwohl das Kramer- und das Schneideramt bei seiner Entstehung 1615 in einem Amt zusammengefasst worden waren und die Bedingungen für beide gleichermaßen galten, waren beide eigenständig. Auch 1733, als Fürstbischof Clemens August das Privileg des Kramer- und Schneideramts aufgrund eines kaiserlichen Reichsschlusses von 1731 erneuerte, galt es weiterhin für beide. Erst 1772, als Georg III das Privileg wiederum erneuerte, wurden die Kramer nicht mehr erwähnt. Am Ausschluss der Kramer wird der Einfluss des damaligen Regierungskonsulenten (-beraters) Justus Möser deutlich, der die privilegierte Stellung der Kramer als „Staatsfehler“ ansah:

Überhaupt wäre es gar nicht nöthig eine eigne Classe von Krämern, oder eine so genannte Krämergilde zu haben. Die ganze Krämerey sollte eine Ergötzung für die Handwerker und ihre Frauen seyn,

äußerte er erstmals in seinem Aufsatz Der nothwendige Unterscheid zwischen dem Kaufmann und Krämer (1773). Die Abwertung entspricht Mösers ständisch orientiertem Gesellschaftsbild: Er stellt die Kramer auf eine Ebene mit den Besitzlosen und Unehrenhaften und gesteht dem Handwerkerstand einen höheren Rang zu.

Diese hervorgehobene Standesehre der Bramscher Schneider findet ihren Niederschlag in einem 1775 angelegtem Protokollbuch. Seitdem hat der Amtssekretär alle rechtlich relevanten Schriftstücke wie die Privilegien in das Protokollbuch übertragen. Aufgrund seiner hohen Bedeutung hat die Zentrale Werkstatt des Niedersächsischen Landesarchivs das Buch aufwändig restauriert. Von handwerklichem Stolz und Standesbewusstsein zeugt auch eine Tischlerrechnung von 1774: Einem Amt angemessene Insignien wie ein Schafferstab und eine repräsentative Gesellenlade wurden angeschafft. Im selben Jahr erkannte das Kollegium der Elfämter-Freunde zu Osnabrück – die Vereinigung aller Ämter in Osnabrück – das Zunftrecht des Schneideramts zu Bramsche an.

 

Vorläufiges und endgültiges Aus im 19. Jahrhundert

Während der französischen Herrschaft im Königreich Westphalen wurde in Osnabrück die Gewerbefreiheit eingeführt und 1810 alle Ämter – so auch das Schneideramt in Bramsche – aufgelöst. Nachdem Hannover wieder an der Macht war, erhielten die Bramscher Schneider ein neues, vom Königreich Hannover ausgestelltes Privileg in Form eines Gildebriefs. Gleichwohl hatte die vorübergehende Gewerbefreiheit der Konkurrenz Auftrieb verschafft: In den Folgejahren befasste sich die Gilde unter anderem mit „schneidernden Frauenzimmern“ und versuchte, den Zugang potenzieller Mitbewerber über hohe Eintrittsgelder zu regulieren.

Über die formelle Auflösung der Schneidergilde ist kein Beleg im Bestand vorhanden; das endgültige Aus dürfte etwa 1870 erfolgt sein, denn ein Schriftstück weist auf unerledigte Geldforderungen in diesem Jahr hin. Fest steht, dass notwendige Anpassungen an die Preußische Gewerbeordnung von 1881, durch die der Status einer freien Innung erlangt worden wäre, nicht mehr vorgenommen worden sind. Als die Landdrostei Osnabrück die Wirksamkeit des Gesetzes zur Gewerbeordnung überprüfte, ließen sich für das Jahr 1886 nur noch zwei Innungen im gesamten Kreis Bersenbrück feststellen: Die freie Tuchmacherinnung Bramsche und die (Verbands-)-Bäckerinnung Bramsche.

Text: Rose Scholl

 

Ilka Thörner
22.07.2024 – 14:15 Uhr